Moto Guzzi C4V

Faszination Technik

Vorkriegs-Hightech vom Allerfeinsten:

Moto Guzzi C4V
Aus : Oldtimer Praxis, 08-08-2001

 

Moto Guzzi's schnelle Einzylinder schrieben über Jahrzehnte hinweg Renngeschichte. Besuchen Sie mit uns einen Kenner, der ein frühes Modell mit viel Fingerspitzengefühl restaurierte, und lemen sie die faszinierende Technik der raren Vierventil-C4V von 1925 kennen.

Carlo Guzzi war seiner Zeit, untertrieben gesprochen, ein wenig voraus. Er suchte die Leistung vor allem dort, wo man sie auch heute noch findet: im Zylinderkopf. Seinem ersten Motorrad, 1920 gebaut, verpasste er einen Motor, der selbst in unseren Tagen noch Eindruck macht: einen liegenden 498-Kubik-Einzylinder mit obenliegender, von einer Königswelle angetriebener Nockenwelle, vier Ventilen und Doppelzündung. Die Maschine leistete beachtliche zwölf PS und dürfte ihrem Erbauer durchaus Freude bereitet haben. Doch wie so haufig funkte die Ratio dazwischen, denn die Sache rechnete sich nicht. Guzzis Buchhalter setzte den Rotstift an, und mit Beginn der Serienfertigung besaB eine Moto Guzzi zwar noch ein kopfgesteuertes Triebwerk, allerdings mit nur zwei Ventilen, die weniger aufwendig von StoBstangen und Kipphebein geöffnet wurden.

Dank sei den Buchhaltem! Hätte Carlo Guzzi auf seiner brillianten Formel bestanden, so waren seine Motorrader heute vielleicht kaum mehr als eine interessante FuBnote der Geschichte. Doch dem Tüchtigen winkt das Glück, besonders wenn er mit ein wenig Geduld gesegnet ist. Die einfacher gestrickten Serienmodelle kamen gut an und waren bald schon auf den Rennstrecken dabei. Die junge „Fabrik" stellte ihre ersten Rennmaschinen auf die Rader. Allerdings war der Typ C2V von 1923, ausgestattet mit dem abgespeckten Kopf der Serienmaschinen, schon bald der Konkurrenz nicht mehr gewachsen. Carlo Guzzi, jetzt mit dem sicheren Polster einer laufenden Serienfertigung gesegnet, holte den Prototyp aus der staubigen Ecke und brachte im Jahr darauf den Typ C4V heraus. Besondere Kennzeichen: siehe oben.
Vier Jahre Erfahrung flossen in die Kontstruktion ein, so dass der Einzylinder (Bohrung X Hub: 88 x 82 Millimeter) schlieBlich satte 22 PS bei 5500 Umdrehungen entfesselte. Eingepasst in einen flach bauenden Rahmen, der samt liegendem Zylinder für einen niedrigen Schwerpunkt sorgte, raumten die Quattrovalvoles ziemlich auf. AufAnhieb wurde Guido Mentasti auf C4V ( "corsa quattro valvole" ) Europameister. Gewinne am Sonntag, verkaufe am Montag - so einfach funktionierte die Werbung damals, und bald schon rannte das begeisterte Publikum Carlo Guzzi die Türen ein.
Die phanomenale C4V wurde bis 1930 gebaut, wobei viele Teile seriennah blieben, wie man etwa an den Ösen erkennt, die der Rahmen für den Beiwagenbetrieb mitbrachte. Ihr Ruf eilt ihr bis heute voraus, was auch Claus Vetterling, der Besitzer des hier vorgestellten Motorrads erfuhr: "Ich suchte eine neue Ölpumpe auf einem Markt in Italien und fand tatsachlich die richtige. Der Handler wollte wissen, was für ein Motorrad ich hatte, und ich sagte ,Quattrovalvole' - da zog er seinen Hut." Was nicht nötig gewesen ware: Vetterling wusste auch zuvor, was für ein Juwel er mit seinem 1925er Modell besitzt, immerhin ist es als Familienerbstück auf ihn niedergekommen. Dennoch bedurfte es einst einer Totalkur, urn den Donnervogel wieder flott zu machen.

Die gute Nachricht damals: Das Motorrad war komplett - bis auf den Lenker. Die schlechte: Der Lenker ist ultraselten. Nach Patent Gazda gebaut und seinerzeit sehr beliebt unter Rennfahrem, trug ein Federpaket aus unbehandeltem Stahl wesentlich zumWohlbefinden der Fahrer bei. An Stelle dieses "Federlenkers" saB eine einfache Lenkstange aus der Nachkriegszeit, die Adapter für die Befestigung der Armaturen waren aber zum Glück noch vorhanden, ebenso wie der rare Reibungsdampfer derVorderradfederung. Vetterling legte die Teile beiseite, lieB fortanjedermann wissen, dass er auf der Suche nach einem Gazda-Lenker sei und widmete sich dem Wiederaufbau.

Das geringste Problem stellte der Motor dar. Wie der Bayer wusste, lief die Maschine - theoretisch zumindest, denn der letzte Einsatz in grauer Vorzeit hatte keine Probleme bereitet. Trotzdem vertraute Vetterling lieber auf seine Erfahrung in solchen Dingen: "Man sollte einen Motor nie 'blind' starten, wenn er lange nicht lief. Ich hab's immer lieber, zuerst nachzuschauen." Die Kontrolle ergab lediglich Spuren eines leichten, lang zurückliegenden Kolbenklemmers - Riefen auf Zylinderwand und Kolbenhemd. Ersatzkolben kann man in Italien bekommen, der Zylinder wurde nur gehont, das war kein Problem. Schwieriger war es, die Bronze-Gleitlager der Kurbelwelle zu erneuem - das ging nicht ohne Nachguss. Der Kopf inklusive Königswelle war in ordentlichem Zustand, selbst die offen liegenden Haam- adelfedem hatten 75 Jahre gut überstanden. Der englische 28,5-Millimeter-AMAC-Vergaser musste nur gereinigt werden, lediglich der Gasschieber war so ausgeleiert, dass Vetterling Ersatz anfertigte. Das Dreiganggetriebe erwies sich als gesund, so bekam es nur frisches Öl. Die Ölbad-Lamellenkupplung brauchte frische Beläge, und damit waren die Arbeiten am Antrieb abgeschlossen.

Eine Besonderheit dieses Exemplars ist der auf den Benzintank aufgesattelte Öltank, der auch auf historischen Fotos nur im Zusammenhang mit Langstreckenrennen auftaucht, für die ein gröBeres Reservoir sinnvoll war (der sonst übliche, kleinere Tank sitzt zwischen Vergaser und Benzintank). Volle vier Liter Öl sorgen für ausreichende Reserven und zusatzliche Kühlung. Der C4V-Motor arbeitet mit Umlaufschmierung, weshalb je eine Pumpe das Öl zum Motor und zurück in den Tank fördert. Die Leitungen waren fällig, Vetterling fertigte sie aus normalem Kupferrohr nach und nahm sich dann den Tank vor: "Der war innen ziemlich bröselig, also hab ich ihn mit einem Zweikomponentenharz abgedichtet."

Überhaupt, die Tanks. Wahrend der Doppelschleifenrahmen und die Schutzbleche sich bester Gesundheit erfreuten (sie stehen heute noch im originalen Lack da!), waren die Behalter verbeult und nicht mehr ganz dicht. Also beizte der Restaurator (der sich beruflich der Wiederherstellung alter Kunstwerke widmet) die alte Farbe ab - "ich habe sie abgebeizt, weil Schleifen oder Sandstrahlen die Zinnschicht unter dem Lack angreift." Dellen beulte er aus, behob Undichtigkeiten mit Weichlot und lackierte die Tanks neu im passenden gedeckten Rot, allerdings nicht mit der Sprühpistole, sondem mit einer Schaumgummirolle! Warum? "So hat die Oberflache eine Krauselung erhalten, die dem Original entspricht. Sprühen ware zu glatt geworden." Die goldene Zierlinie zog Vetterling mit der Hand nach, und zum Abschluss kamen noch die passenden Embleme drauf. Diese fand er als Nachfertigungen auf einem Teilemarkt in Imola, originalgetreu als Abschieber, die in Wasser angelöst und dann vorsichtig vom Tragerpapier auf die richtige Stelle geschoben werden. Auf dem vorderen Schutzblech übrigens prangt noch der echte alte Guzzi-Adler!

Auch die Gabel nahm unser Mann auseinander, prüfte und fettete sie und setzte sie wieder zusammen - offensichtlich war dieses Puzzle aus einander ahneinden Muttem, Bolzen und Sicherungsstiften weniger verwirrend als man vermuten könnte: "Da kann nicht viel schiefgehen. Es passt nur auf diese Art zusammen." Der hinteren Felge war nicht mehr zu helfen - zuviel Rost. Vetterling fand eine originale in Italien, Format 26 x 3. Die vordere war gesund, und die passenden Reifen vom Typ Dunlop extra heavy sind im Handel erhaltlich. Vorne sind Rad und Pneu mit 28 Zoll gröBer dimensioniert - "damals war man der Meinung, das ergabe eine bessere StraBenlage."

Nach ungefahr einem Jahr Suche fand sich auch ein Lenker. Vetterling hörte von einer Landmaschinenwerkstatt im Allgau, bei der ein passenes Teil an der Wand hangen solle. Voll guter Hoffnung machte Vetterling sich auf den Weg - und musste herausfinden, dass der Eigentümer genau wusste, was er da hatte und es eigentlich nicht herausrücken wollte. "Ich hab ihn eigentlich nur über den Preis umstimmen können. Trotzdem bin ich dann freudestrahlend heimgefahren." lm Verlauf eines weiteren Jahres wuchs der alte Renner zu neuer Pracht zusammen.

Mit der Zulassung kam die Auflage, batteriebetriebene Lampen dranzuschrauben. Das ruiniert zwar die Optik, aber was hilffs, der TÜV schreibt sie vor. Frisch zugelassen, nahm Vetterling die Guzzi auf die erste Ausfahrt - und erlitt sofort einen kapitalen Schaden: Auf eine Empfehlung hin, die Kegelrader der Königswelle dürften nicht zu stramm sitzen, hatte er Einbauspiele gewählt, die so groB waren, dass sich im Betrieb als nicht bekömmlich erwiesen. Auf einer offenen LandstraBe, wo man ein wenig Gas gibt, ertönte unvermittelt ein mörderisches Krachen. Geistesgegenwärtig zog Vetterling die Kupplung - und hatte Glück im Ungluck: Offensichtlich hatten sich die Kegelräder unter Last verkantet, das Ritzel auf der Kurbelwelle war abgeschert und hatte Tango mit dem Ventilantrieb getanzt. Zwei Ventile schlugen daraufhin kurz auf den Kolbenboden. Die Bilanz: verbogene Ventile, eine gerissene Ventilfeder, aber der Kolben war in Ordnung.

Das zerstörte Ritzel war zu beschaffen, wie vieles andere auch. Gute Erfahnmgen hat Vetterling mit der Hauptquelle für Ersatzteile gemacht, den italienischen Märkten, wobei nicht jeder der vielen regionalen Veranstaltungen einen Besuch wert ist. Der Kenner empfiehit die Markte von Imola, Mailand und Reggio Emilio. Natürlich kann man dort auch ganze Fahrzeuge erstehen, allerdings wird dort wenig Glück haben, wem der Sinn nach Vorkrieg steht. In der Landessprache sollte man sich schon zurechtfinden, im Übrigen sind die Handler, so Vetterling, sehr zugänglich: „Es ist schön dort. Man hat das Gefühl, denen macht die Sache richtig SpaB."

Einen Renner aus den Anfangen des Sports zu fahren, ist etwas Besonderes - und strengt an. Komfort findet nicht statt, die Sitzhaltung mit den flach aufgestellten FüBen ist gewöhnungsbedürftig. AuBerdem bleiben die FüBe weitgehend arbeitslos, abgesehen von der Bremse links, die mit dem Absatz betatigt wird. Das Pedal wirkt auf die Trommelbremse hinten, das einzig nennenswerte Verzögerungsinstrument. Am Vorderrad gibt's eine Keilbremse, bei der ein Gummiklotz auf eine "Bremsfelge" wirkt - zu Recht eine der Lösungen, denen keine nennenswerte Zukunft beschert war.

Um die Guzzi zu starten, braucht es einige Kenntnis - und einen Helfer. Die verschiedenen Armaturen am Leuker wollen sortiert sein, namentlich der Gasgriff rechts, sowie links Zündverstellung, Gemischregler, Kupplungshebel und Ventilausheber. Zunachst werden Öl- und Benzinhähne geöffnet und derVergaser geflutet. Der Luftregler wird geschlossen, die Zündung auf halb gestellt, der zweite Gang eingelegt und der Ventilausheber gezogen. Der Helfer schiebt nun aus Leibeskraften, am besten am massiven hinteren Schutzblech. Sobald der arme Mensch die Fuhre aufein gewisses Tempo gebracht hat, lasst der Pilot den Ventilausheber los und der Motor springt an.

Entspanntes Tuckern ist die Sache der Quattrovalvole nicht - erstens hat man alle Hände voll zu tun, besonders wenn schnell gebremst und geschaltet werden muss, zweitens ist die Maschine zwar ein altes Ungetüm, aber dennoch ein echter Renner. Sie stürmt vorwarts, wenn man ihr auch nur maBig Futter gibt. Das kann im Verein mit der antiken StraBenlage zur Belastung werden, wie Vetterling herausgefunden hat: „Nach alten Angaben lauft die C4V bis zu 160 km/h. Ich kann mir nicht vorstellen, wie die das ausgehalten haben. Einmal hab ich's bis 140 geschafft, aber da kriegt man schon Zustande. Die müssen damals das Gehirn ausgeschaltet haben."

Aber es Meister Mentasti nachzutun, kann kaum der Sinn einer solchen Restaurierung sein. Wirklich interessant ist es, sich auf die eigentümliche Welt des Handgedrehten einzulassen, aus der die alte Guzzi stammt. Vetterling trifft den Nagel auf den Kopf: "Eigene Erfahrungen sammeln, die Mechanik studieren, ihren Geheimnissen auf die Spur zu kommen - das ist es, was einen in den Bann eines solchen Motorrads schlagt.

Text: Till Schauen Fotos: Andreas Beyer

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