Aus KRADBLATT 12/97
Von Klaus Herder

Warum gibt es eigentlich keinen Mythos CBR 600? Eben. Moto Guzzi war lange Zeit so ein Fabrikat, das nur noch über die Schiene Charakter verkloppt werden konnte. Allerdings mehr schlecht als recht, denn im Unterschied zu anderen Fabrikaten kam bei den Italienern erschwerend hinzu, daà der typische Guzzi-Fahrer Stacheldraht in der Tasche hat. So faselten die vollbärtigen Jethelmträger zwar immernoch von Individualität als die Maschinen längst von Jahr zu Jahr schlechter wurden, nur kaufen wollte sie dann doch keiner. Die Jungs gönnten sich lieber eine Le Mans aus sechster Hand und schraubten fleiÃig weiter. Doch diese schlechten Zeiten scheinen vorbei zu sein. Neues Modellprogramm, neuer Importeur, neues Glück - der aktuelle Guzzi-Jahrgang kann sich sehen und vor allem fahren lassen. So zum Beispiel die V 10 Centauro. Das vollgetankt immerhin 243 Kilogramm schwere Zwitterwesen - laut Modellbezeichnung halb Mensch, halb Pferd - ist ein Naturereignis. Fotos bringen nur unvollständig rüber, wie üppig die Maschine in natura wirkt. Der 992 ccm groÃe und 95 PS starke Zweizylindermotor ist aus dem Vollen geschnitzt. Der 18 Liter-Kunststofftank breitet sich genauso schamlos aus wie das fette Sitzkissen, und die dicke Edelstahlauspuffanlage entstammt vermutlich dem Lieferprogramm eines Lkw-Ausrüsters. Die barocken Formen sind nicht jedermanns Sache, doch sie sind stimmig - alles paÃt zueinander.


Ganz besonders gut leben läÃt sich mit dem mächtigen Antritt der Centauro. Der aus der Daytona stammende Motor zieht aus niedrigsten Drehzahlen heraus brutal los. Die Gasannahme ist perfekt, ab knapp 3000 U/min hat es ein Ende mit den derben aber nicht unangenehmen Vibrationen. Aber auch oberhalb dieser Drehzahl bleibt jederzeit deutlich spürbar, daà unter einem zwei groÃe und nicht vier kleine Zylinder befüllt und geleert werden.

Wie von einer Italienerin nicht anders zu erwarten, macht die Guzzi fahrwerksmäÃig keine Probleme. Der Geradeauslauf ist bis zur Höchstgeschwindigkeit absolut stabil, der unterhalb des Lenkkopfs montierte Lenkungsdämpfer erledigt seinen Job hervorragend. Die Handlichkeit ist deutlich besser, als es das gewaltige ÃuÃere vermuten lassen würde. Kurzer Nachlauf (90 mm) und breiter Lenker, groÃzügige Schräglagenfreiheit und klebende Pirelli Dragon MTR 01/02-Gummis machen das Kurvenglück mit der Centauro perfekt.
Die Upside-down-Gabel und das liegend montierte Zentralfederbein stammen von der Firma âWhite Power" und sind beide voll einstellbar. Die Gabel arbeitet noch eine Spur sensibler als ihr Markenkollege am Heck. Selbst in der softesten Einstellung ist die Hinterhand etwas zu hart und unkomfortabel - zumindest im Solobetrieb.
Daà keine Kette, sondern eine offen laufende Kardanwelle als Sekundärtrieb arbeitet, ist in der Praxis absolut nicht zu spüren. Keine Lastwechselreaktionen, kein Aufstellmoment - die Zweigelenk-Dreieckschwinge der Moto Guzzi V 10 Centauro funktioniert nicht nur theoretisch gut.
Die Bremsen stammen von Brembo. Vorn packen zwei Vierkolbensättel die beiden schwimmend gelagerten 320 Millimeter-Scheiben, hinten tut es ein Zweikolbensattel an einer 282 mm durchmessenden Einzelscheibe. Sowohl Dosierbarkeit als auch Wirkung sind top. So zügig die Centauro auf Tempo kommt, so schnell und sicher kommt sie auch wieder zum Stehen.
Doch Moto wäre nicht Guzzi, wenn es beim Gesamtkunstwerk V 10 Centauro nicht auch ein paar ärgerliche Kleinigkeiten zu bemängeln gäbe. Die Kontrollampen im Cockpit sind Funzeln, die am Tag kaum zu erkennen sind. Der Seitenständer sitzt zu weit vorn und klappt garantiert im ungünstigsten Moment von allein ein. Der unter dem Plastikbürzel versteckte Mini-Soziusplatz ist eine Zumutung, und der unmotiviert vor den Motor geklatschte Ãlkühler sieht nach schlimmster Bastelarbeit aus.
Der Verbrauch von über acht Litern Superbenzin auf 100 km bei zügiger Autobahnfahrt liegt deutlich zu hoch - erst recht für ein Motorrad mit Einspritzanlage. Selbst im gemäÃigten LandstraÃenbetrieb fackelt die Centauro immer noch mehr als sechs Liter ab.
Der ganze Rest allerdings stimmt - die Verarbeitungsqualität ist erfreulich unitalienisch, nämlich ziemlich gut.
Für 21.900 deutsche Mark gibt es also einen druckvollen Motor, ein stabiles und handliches Fahrwerk mit hervorragenden Bremsen, ein unverwechselbares ÃuÃeres und - man kommt an diesem zu oft strapazierten Begriff nicht vorbei - jede Menge Charakter. Der unvergleichliche Zweizylinder-Punch macht es möglich. Moto Guzzi hat mit der V 10 Centauro glücklicherweise keinen Mythos auf die Räder gestellt, sondern einfach ein tolles Motorrad, das funktioniert.